Sie erzeugte im Allgemeinen überall dieselben Verhältnisse zwischen den Klassen der Gesellschaft und vernichtete dadurch die Besonderheit der einzelnen Nationalitäten. Und endlich, während die Bourgeoisie jeder Nation noch aparte nationale Interessen behält, schuf die große Industrie eine Klasse, die bei allen Nationen dasselbe Interesse hat und bei der die Nationalität schon vernichtet ist, eine Klasse, die wirklich die ganze alte Welt los ist und zugleich ihr gegenübersteht. Sie macht dem Arbeiter nicht bloß das Verhältnis zum Kapitalisten, sondern die Arbeit selbst unerträglich.

Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie


WELT IN UMWÄLZUNG

Zur Zeit findet die größte gesellschaftliche Umwälzung statt, die dieser Planet je gesehen hat. Groß, das meint die Zahl der Menschen, die direkt davon betroffen sind und das meint die Geschwindigkeit, mit der diese Umwälzung vor sich geht.

Es geht um die letzten 6 bis 7 Jahre. Es geht um Asien, ein bißchen auch um Afrika. Aber - die Dimensionen allein werden zeigen, daß wir natürlich von Welt- Geschichte reden, um Geschichte, die unter unseren Augen vor sich geht.

Seit der Jungsteinzeit war die große Mehrheit der Menschen Bauern. In unterschiedlichen Ausbeutungsverhältnissen, z.B. Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus etc. Bauer zu sein und auf dem Land zu leben, das heißt: direkten Zugang zum einfachen Produktionsmittel, dem Boden zu haben. Also immer die Möglichkeit, wenigstens das Allernotwendigste selber herstellen zu können. Auf dem Land zu leben, das heißt nicht nur viel schwere Arbeit, sondern Kinderarbeit, wenig Ausbildung und Bildung, wenig oder gar keine überschüssige Zeit für Kultur. Landleben: das heißt nicht nur: keine Disco, sondern heute noch, daß die Familie und die Religion das Leben bestimmen, und deshalb heißt es vor allem Unterdrückung der Kinder und der Frauen.

Bis vor kurzem, bis vor vielleicht 2,3 Jahren, war die Mehrheit der Menschen Bauern. Zwar nicht mehr in Europa und Nordamerika. Auch nicht mehr in Lateinamerika. Wohl aber in Afrika und vor allem in Asien, wo 2/3 der Menschheit lebt.

Ich will von "gesellschaftlicher Umwälzung" in Asien berichten und dabei geht's um:

- Proletarisierung und Urbanisierung,

- den Aufstieg einer neuen Arbeiterklasse,

- und den Anfang des Zerfalls von großen Staats- und Machtgebilden.

Ich will mich auf zwei Länder beschränken: China und Indonesien. Aber die Entwicklung dort ist typisch für ganz Asien, auch wenn es zwischen den einzelnen Ländern Zeitverschiebungen von wenigen Jahren gibt.

Das Epizentrum dieses gesellschaftlichen Erdbebens liegt in Shenzhen, Südostchina, zwischen Hongkong und Kanton. 1979 hatte Shenzhen ca 23000 Einwohner. Inzwischen gibt es keine gesicherten Zahlen mehr; es sind vielleicht 4 oder 5 Millionen. 1980 wurde Shenzhen zu einer Wirtschaftssonderzone. Wirtschaftssonderzone bedeutet Zollfreiheit, keinerlei Schutz der Beschäftigten, also freies Wirtschaften für Kapital aus dem Westen.

Seit 78 in der Landwirtschaft und 84 in der Industrie verfolgt der chinesische Staat die Politik der Liberalisierung der Wirtschaft, u.a. als Antwort auf den Lohndruck der ArbeiterInnen in den Staatsbetrieben. Ein paar Stichworte:

- Aufhebung der Kollektivierung in der Landwirtschaft,

- immer größere Entscheidungsfreiheit der Chefs auch in Staatsbetrieben,

- Gewerbefreiheit,

- 1985 Abschaffung der Garantiepreise für die Bauern,

- Ende der zentralstaatlichen Einzelplanung und Ersatz durch Steuerungsmechanismen mittels Steuern, Geldmenge etc.

- Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen.

- nur noch befristete Einstellungen usw.

Die politische Struktur des Staates soll unverändert bleiben. Alles unter Führung durch die KP China, Monopolisierung aller politischen und kulturellen Bereiche durch den Staat oder staatliche Massenorganisationen. Dennoch beginnt mit den wirtschaftlichen Reformen eine langsame kulturelle Öffnung. Westliche Kleidung und Musik werden möglich. Gleichzeitig nimmt die Inflation rapide zu und führt in den 80er Jahren zur deutlichen Verarmung der städtischen Bevölkerung und zu Arbeiterkämpfen. Teile der herrschenden Elite drängen auf mehr Freiheiten und Freizügigkeiten; vor allem der Nachwuchs der Elite, die Studenten. Das gipfelt in den Hungerstreik auf dem Tien-an-men im Frühjahr 89.

In Indonesien herrscht seit der Vernichtung der Opposition 1966 die Armee und die Clique um Soeharto. Die Entwicklung ist seitdem weniger kurvenreich und weniger spektakulär, aber in den späten 80ern haben wir ähnliche Ergebnisse wie in China. Der Reichtum der herrschenden Clique ist so extrem wie die Armut der Massen. Java, die Hauptinsel ist zwar die fruchtbarste Region der Erde, aber auch die am dichtesten besiedelte. Die Bauern wirtschaften auf Parzellen, die oft kleiner sind als 1 Hektar. Die Bevölkerung wächst stark, sie hat sich seit 1960 mehr als verdoppelt. Es gibt den kontinuierlichen Zug in die Städte, die haben die typische Struktur der Städte in der "Dritten Welt". Ein kleines blitzendes Zentrum und eine riesige Fläche von Vorstädten drumrum. Die übergroße Zahl der Menschen arbeitet im sogenannten Dienstleistungssektor. Die wirtschaftliche Entwicklung ist mäßig und beruht auf der Ausfuhr von Rohstoffen und Naturprodukten (Öl und Kaffee).

1989 (Tien-an-men) ist das Datum, das am Beginn der jetzigen Entwicklung steht. Tien-an-men deshalb, weil er in zweifacher Hinsicht für die ungeheure Beschleunigung der Entwicklung in China steht.

Am 4.Mai 89 besetzen einige zehntausend Studenten der Pekinger Eliteuniversitäten den Platz des himmlischen Friedens und fordern mehr Demokratie. Die Bevölkerung spendet Beifall, bleibt aber zunächst zurückhaltend. Die Studenten bemühen sich auch nicht um Unterstützung, sondern versuchen sogar, "fremde Elemente" fernzuhalten. Der Autonome Pekinger Arbeiterverband darf am Rande des Platzes ein eigenes Zelt aufschlagen. Es kommt tatsächlich zu Verhandlungen mit höchsten Regierungskreisen, die auch im TV gezeigt werden. Immer mehr Menschen schließen sich dem Protest an auf die eine oder andere Weise an und es entwickelt sich, zuerst recht unsichtbar, ein Aufstand des Pekinger Proletariats. Ein Stahlwerk war schon länger im Streik, jetzt wird der Aufruf zum Generalstreik vollständig befolgt. In dem Maße, wie die Regierung das wahrnimmt, bereitet sie die Niederschlagung vor; Truppen werden von weit her herbeigeschafft, der Ausnahmezustand verhängt. Die Bevölkerung, durch spontan organisierte Motorradmelder informiert, errichtet Barrikaden. Versuche der Armeeführung, die Sache mit Polizeimaßnahmen, also ohne sofortigen Einsatz von Schußwaffen, zu beenden, schlagen im Ansatz fehl. Die einmarschierenden Truppen werden weit ab vom Platz von der Bevölkerung eingekesselt und stillgelegt. Am Abend des 3. Juni allerdings marschiert die Armee ohne Rücksicht auf Verluste. Mehrere Panzer- und Infantriedivisionen durchbrechen die Barrikaden und schießen. Die Pekinger setzen sich weiterhin zur Wehr, haben aber ohne Waffen keine Chance. Es wird oft vom Massaker auf dem Tien-an-men gesprochen. Die hungerstreikenden Studenten erhielten freien Abzug, dabei mögen einige umgekommen sein. Das eigentliche Massaker aber wurde in den Vorstädten an der Pekinger Bevölkerung verübt. Sichere Zahlen gibt es nicht, das Chinesische Rote Kreuz hat von 2600 getöteten Zivilisten gesprochen. Wie erbittert die ungleichen Kämpfe gewesen sein müssen, zeigt sich daran, daß die Armee über 1000 Lastwagen und 60 Panzer verloren hat.

Der Aufstand in Peking, seine Niederschlagung und die nachfolgende Repressionswelle macht erst mal viele Hoffnungen zunichte. Die Menschen wenden sich wieder den individuellen Möglichkeiten zu. Das Regime unterstützt dies mit noch weitergehender wirtschaftlicher Liberalisierung. 1990 wird in Shenzhen die erste Aktienbörse eröffnet. Staatsbetriebe fangen an, Beschäftigte abzubauen. Riesige Mengen Kapital fließen ins Land. "Geld machen" wird zur Maxime von allen, die entweder skrupellos oder reich genug dazu sind. Die regionalen und lokalen Amtsinhaber machen ihre eigene Wirtschaftspolitik, richten Sonderzonen ein (1992 sind es schon 2000), gründen Joint-Ventures, machen eigene Firmen auf. Korruption explodiert in der Grauzone von neuen Zuständigkeiten, neuen Steuern und Abgaben.

Vor allem die Leute auf dem Land gehören zu den Verlierern. Gewiß, einige gründen kleine Firmen in den über 10000 lokalen Provinzsonderzonen. Einige werden reich im Handel mit Grundstücken.

Ein großer Teil aber hat die Schnauze voll vom Wirtschaften auf kleinen Parzellen, von den hohen Steuern und Schmiergeldern und überhaupt vom Leben auf dem Land. Er zieht in die Städte. Und wenn ich bei China sage: "ein großer Teil", dann läßt sich die Dimension schon erahnen, die die Völkerwanderung hat. Mingong, Arbeiterbauern, werden die Menschen genannt, die noch einen Ausweis haben, der sie zu Bauern erklärt, die aber in die Städte auf der Suche nach Arbeit gezogen sind und immer noch ziehen. Es dürften heute ungefähr 150 Millionen Menschen sein. Also ungefähr so viele, wie in der ganzen Europäischen Union abhängig beschäftigt sind. Es sind ungefähr 15% der Gesamtbevölkerung Chinas, gut 1/3 der abhängig Beschäftigten. Damit ist das Proletariat, also diejenigen die keinen direkten Zugang zu Produktionsmittel haben, die nichts haben außer ihrer Arbeitskraft, zur zahlenmäßigen Mehrheit in China geworden (und damit gilt dies wohl auch für die Welt).

Viele bleiben erstmal in ihrer Heimatprovinz und ziehen in die kleineren Städte oder in die tausend Landstädte, die in letzten Jahren neu entstanden sind. Sie verdingen sich in Bergwerken, kleinen Privatklitschen. Die meisten allerdings ziehen in die großen Städte im Osten und Südosten.

Was in China etwas sprunghaft vor sich gegangen ist, war so ähnlich in fast allen Süd- und südostasiatischen Ländern. Indonesien war schon länger politisch und sozial so organisiert wie China heute. Militärdiktatur, eine prinzipiell auf allen Ebenen korrupte Verwaltung, Armut der Landbevölkerung, Reichtum bei einer kleinen städtischen Schicht. Die bescheidene Entwicklung wird mit Öl und Schulden bezahlt.

Der Aufstand 1987 in Südkorea gegen die Diktatur und der Aufstand der Pekinger 1989 markieren entscheidende Daten für ganz Asien. Seit dem nämlich strömt internationales Kapital in großem Umfang auch nach Indonesien. Und es sind vor allem südkoreanische und chinesische Kapitalisten, die als Subunternehmer die Produktion von Textil, Schuhen, Elektronik organisieren. Es entstehen riesige Fabriken, aber auch Netze von Heimarbeit mit viel Kinderarbeit.

Auch in Indonesien schwillt der Zug nach Java und der Zug in die Städte gewaltig an: Seit 1980 hat sich die Zahl der Einwohner der Städte verdoppelt und möglicherweise ist dies noch lange nicht die ganze Wahrheit. Die Stadtverwaltungen sind hoffnungslos überfordert. 40% der Leute in Jakarta haben z.B. kein Trinkwasser. Überhaupt scheint der Staat immer mehr die direkte Kontrolle zu verlieren. Sehr vorsichtige Autoren schätzen, daß ein Drittel der gesamten Wirtschaftstätigkeit auf allen Ebenen im "informellen Sektor" stattfindet, es gibt auch Schätzungen bis 60%.

Noch ausgeprägter in China. Noch vor, sagen wir 10 Jahren hatte China wohl das umfangreichste und ausgeklügelste System zur Verwaltung und Kontrolle der Gesellschaft. Niemand konnte in die Kreisstadt fahren, ohne daß dies vom Nachbarschaftskomitee notiert worden ist. Für alles brauchte man eine Genehmigung. Heute bauen die Mingong ganze Millionenstädte aus Zelten und Baracken am Rande von Shanghai oder Wuhan. Ohne irgend jemanden zu fragen. Aber das ist nur der eine Aspekt. Die Regionalfürsten werden immer mächtiger, machen ihre eigene Investitionspolitik, bis hin zu den Stadtverwaltungen, die oft nix mehr kontrollieren, sondern nur noch abzocken.

Entsprechend verfallen die Lebens- und Arbeitsbedingungen. Unvorstellbar die Bergwerke, wo 94 und 95 je 10000 Arbeiter umgekommen sind. Bekannt auch die Umweltdesaster. In Liaoming sind ganze Städte nicht mehr auf Satellitenaufnahmen zu sehen- wegen dem Smog.

Daß Armut und soziales Elend zunimmt, will ich nur benennen. Vor allem alte Menschen sind betroffen. Aber alles in allem hat dieses Problem wohl noch nicht das Ausmaß wie in Indonesien oder anderen Ländern.

Daß kulturelles Elend zunimmt, ist auch klar. Kriminalität nimmt natürlich in dem Maße zu, wie die wildwest-kapitalistischen Umgangsformen den halbfeudalen staatlichen Strukturen entschwinden. Pornographie und Prostitution sind jetzt für jedermann zugänglich, sogar die Volksbefreiungsarmee betreibt in Shanghai ein First-Class-Bordell, natürlich als Joint-Venture. Das Regime hat keine andere Antwort mehr als Gewalt. In der ersten Hälfte 96 hat Amnesty 1014 Todesstrafen registriert, wovon über 800 sofort vollstreckt wurden, teilweise als öffentliches Schauspiel. Allein am 26.Juni 96, dem chinesischen Anti-Drogen-Tag, wurden 769 zum Tode verurteilt und 230 noch am selben Tag hingerichtet.

Die Diktaturen, ob sie sich "kommunistisch" nennen oder antikommunistisch, kommen aus einer Zeit, in der die Bauern noch die maßgebende Klasse waren. Militärdiktaturen in relativ großen Einheiten oder Reichen. Staaten, die noch in vieler Hinsicht an den Feudalismus erinnern, vor allem in dem Punkt, daß ihre wichtigsten Methoden der Herrschaft Ideologie und offene Gewalt sind. Diktaturen, die sich jetzt aber immer weniger auf die relative Ruhe und Stabilität der Landbevölkerung stützen können. Heute verwalten sie die Gesellschaft kaum noch, sondern herrschen nur noch mit schlichter und unverhüllter Repression.

Wir haben jetzt also Proletarisierung als Verelendung. Gleichzeitig nehmen aber mit Verelendung Nationalismus, Ethnizismus, religiöser Wahn zu, vor allem dann, wenn die Proletarisierung der Menschen nicht mit der Hoffnung verbunden ist, einen Teil des ungeheuren Reichtums abzukriegen, den der Kapitalismus vorführt. Überall gibt es Minderheiten, auch wenn das Problem unterschiedlich groß ist. Indonesien besteht eigentlich nur aus Minderheiten, dort gibt es zur Zeit viele Riots von Moslems gegen Buddhisten und Christen; es ist aber unstrittig, daß die Ursachen dafür im "sozialen Bereich" liegen. In China gibt es die Mongolen, die Uiguren und Tibet - und eine große und wachsende soziale und kulturelle Kluft zwischen den Küstenprovinzen und Zentralchina. Man braucht also kein Prophet zu sein, wenn man sagt, daß Entwicklungen wie in der Sowjetunion oder gar Jugoslawien möglich sind.

Aber "möglich" heißt nicht "unausweichlich". Denn es gibt auch die andere Seite. Proletarisierung muß nicht nur zu sozialem und kulturellem Elend führen. Aus dem Proletariat kann auch Arbeiterklasse werden; also eine Klasse, die von sich selber weis, die in der Lage ist, sich gegen ihr Elend zu wehren und die vielleicht sogar die Hoffnung auf eine ganz andere Welt repräsentiert. Und daß diese neue Arbeiterklasse entsteht, ist ein entscheidender Unterschied zur Entwicklung in der ehemaligen SU!

Die Geschichte der Unterdrückten bleibt meist verborgen. Aber manchmal melden sie sich so zu Wort, daß wir es von hier aus sehen und hören. So wie beim Pekinger Aufstand 89. Oder beim Aufstand in Jakarta vor ziemlich genau einem Jahr. In China und in Indonesien sind unabhängige Arbeiterorganisationen verboten. Es gibt keine Statistik oder so über Streiks. Aber es gibt immer wieder einzelne Berichte, die darauf hin weisen, daß gerade die neue Arbeiterklasse sehr wohl in der Lage ist, zu kämpfen. Arbeiteraktionen, von kollektiven Beschwerden bis hin zu Streiks, sind Alltag. Im März haben zum Beispiel die ArbeiterInnen in der Provinzstadt Nanchong (Zentralchina) auf die Nichtzahlung der Löhne durch den zahlungsunfähigen Staatsbetrieb reagiert: 20000 nahmen die Manager als Geisel und belagerten tagelang das Rathaus, bis die Auszahlung zugesichert wurde.

Überall in Südostasien steigen die Löhne als Folge der Kämpfe. Auf Billigstarbeit spezialisierte Firmen wie zum Beispiel die Sportschuhfirma NIKE verlagern immer hektischer ihre Produktion von einem Land in ein noch billigeres und werden nicht mehr richtig glücklich. War es in den 80ern Südkorea, sind es jetzt noch China und Indonesien; aber NIKE produziert schon zunehmend in Vietnam, in direkter Reaktion auf Lohnkämpfe in Indonesien. Aber auch in Vietnam gibt es Streiks bei NIKE und die LE MONDE vom 24.Juni 97 deutet schon Afrika als "nächsten Stop" für NIKE an...

Viel eindrucksvoller als die Zahlen ist es, wenn wir uns diese neue Arbeiterklasse als politisch-kulturelle Größe vor Augen führen:

1. Es sind verdammt viele! Wenn allein in China in diesem Jahrzehnt 150 Millionen Menschen von Bauern zu städtischen Proletariern geworden sind, dann kann man ohne weiteres davon ausgehen, daß die Anzahl der ArbeiterInnen erster Generation in Südost- und Südasien weit größer ist als die Workforce von Westeuropa und Nordamerika zusammen.

2. Diese Arbeiterklasse ist verdammt jung. Vor allem die jungen Menschen bringen die Voraussetzungen und den Mut auf, sich aus den alten Verhältnissen zu lösen, sich auf Wanderschaft zu begeben und ein anderes Glück zu versuchen. Ich denke, daß in vielen der neuen Elektronik- und Textilfabriken das Durchschnittsalter um die 20 oder darunter liegt.

3. Sie ist politisch unverbraucht. Das kann man am besten daran sehen, daß auch ihre "FührerInnen", also die Leute, die bekannt werden, sehr jung sind.

4. Sie ist hochmobil, sie sind nicht durch Tradition oder so gebunden und bereit und fähig zur Migration.

5., und das ist vielleicht das wichtigste: sie ist ungeheuer weiblich. 1/3 der chinesischen Mingong sind Frauen. ("Da gong mei"). Und gerade die bringen, über ganz Asien, mit die eindrucksvollsten Kämpfe zustande. Fast jede Woche kommt übers Internet ein Bericht über oder ein Hinweis auf Aktionen von TextilarbeiterInnen.

Und wenn man sich jetzt vor Augen hält, daß in den feudalen Strukturen des ländlichen Chinas noch vor wenigen Jahrzehnten den Mädchen die Füße abgebunden wurden zur größeren sexuellen Freude ihres Besitzers; wenn man sich vor Augen hält, daß heute noch einzelne Stadtverwaltungen ein Bußgeld von Frauen verlangen, die bei Eheschließung nicht mehr "Jungfrau" sind, wenn man sich vor Augen hält, daß in Indonesien eine tiefverwurzelte islamische Tradition auf dem Land vorherrscht und sich dann demgegenüber das 17-jährige Mädchen vorstellt, das angesichts der ungeheuren kapitalistischen Welt und angesichts von Soldaten mit automatischen Waffen einen Streik durchführt, dann kann man sich vielleicht ein Bild von der Dynamik machen, die in dieser neuen Arbeiterklasse steckt.

In Bahasa Indonesia heißt Globalisierung "Globalisasi". Auch in Indonesien argumentieren Regierung und Kapitalisten mit der gesteigerten Konkurrenz auf Weltebene. Die Menschen jedenfalls verbinden mit Globalisasi allerdings etwas ganz anderes. Es ist die Zusammenfassung ihrer Bedürfnisse, Wünsche, Hoffnungen. Es ist das Versprechen, das vom neoliberalen Kapitalismus gegeben wird ­ sehr eindrucksvoll verkündet wird ­, einen Weg aus dem sozialen, kulturellen und politischen Elend zu eröffnen. Es ist das Versprechen von fließend Wasser und Kühlschrank, Tekkno und Punk, Videorekorder und Internet und, irgendwie, Freiheit, oder besser, Befreiung aus den alten halbfeudalen Fesseln.

Wir leben in einer Dekade, die sehr eindrucksvoll zeigt, daß historische Entwicklungen nicht den Strategien und Maßnahmen der Herrschenden und Mächtigen entspringen. Sondern aus den Hoffnungen, Bewegungen und Kämpfen der Menschen.

Noch kann der Kapitalismus dies in Arbeit und Produktivität wenden. Noch landen die Menschen nicht am Ziel ihrer Reise, sondern in den Hungerlohnfabriken von NIKE und anderen.

Von uns aus gesehen stellt sich das natürlich anders dar, wenn wir nicht genau hinsehen. Wir sehen das angeblich übermächtige Finanzkapital, das - wiederum angeblich - die Nationalstaaten und Nationalökonomien unter Druck setzt. Aber das Finanzkapital repräsentiert im Wesentlichen die erfolgreiche Ausbeutung der Leute in Asien.

Aber ich denke, diese kapitalistische Party hat ihren Höhepunkt überschritten. Die Menschen in Albanien haben sich vor kurzem sehr eindrucksvoll dagegen ausgesprochen, die asiatischen Billigstlöhner in Europa zu werden. Aber auch die Leute in Asien selber sind mit einer solchen Rolle ganz und gar nicht einverstanden.

Was zur Zeit in Asien vor sich geht, ist wahrhaft eine proletarische Kulturrevolution. Was da vor sich geht, ist ein Aufbruch von Massen auf der Suche nach Glück, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Und eins ist gewiß: der Kapitalismus wird ihre Hoffnungen nicht erfüllen.

Referat, Dies Academicum Mannheim, 10.7.97,

Welt in Umwälzung

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