1100 Tote in Jakarta: Spontaner Aufstand oder inszenierte Selbstzerfleischung?

In den Tagen der Riots in Jakarta gab es viele einzelne Ereignisse von ganz unterschiedlichem Charakter. Es schien, als sei das Proletariat der indonesischen Hauptstadt spontan aufgestanden, um sich einen Teil dessen zurückzuholen, was ihm in den letzten Jahren gestohlen worden ist und um sich an den Dieben, Betrügern, Ausbeutern und Unterdrückern zu rächen. Das war in einigen Vierteln und für einige Situationen gewiß der richtige Eindruck - es wird von volksfestartiger Stimmung und guter Laune auf den Straßen berichtet. Und wenn es eine Rechtfertigung für die Plünderungen bräuchte, dann die: der Soeharto-Clan allein hat in den 30 Jahren seiner Herrschaft ungefähr 40 Milliarden Dollar zusammengerafft, also fast soviel, wie das Hilfspaket des IWF umfaßt. Ein "Hilfspaket", das als Begründung für neuerliche Raubzüge des Kapitals gegen die Bevölkerung Indonesiens herhalten muß.

So selbstverständlich die Wut der Leute in Indonesien ist, so ist schwer vorzustellen, daß sie sich einfach gegenseitig umbringen. Viel näher liegt es, daran zu erinnern, daß das indonesische Regime der "Neuen Ordnung" in einem inszenierten Massaker an mindestens einer halben Million Menschen geboren wurde und daß dieses Regime seitdem immer wieder die Selbstzerfleischung der indonesischen Bevölkerung organisiert hat. Immer wieder mußten die "Chinesen" als Übeltäter herhalten, um von den eigenen unsäglichen Verbrechen abzulenken. Auch in Indonesien gibt es Faschisten, religiöse Fanatiker, Geheimdienstler, Staatsjugendliche, derer man sich bedienen kann und bedient hat. Am Tag, als die Studenten das Parlament besetzten, tauchten dort 300 Jugendliche von staats- und militärnahen Organisationen, zum Teil in Kampfanzügen und bewaffnet, auf, um Soeharto zu unterstützen. Aber angesichts der Kräfteverhältnisse hielt es in diesem Fall der Militärchef von Jakarta geboten, friedensstiftend einzugreifen.

Wir dokumentieren im Folgenden den Versuch einer Gruppe, die sich "Freiwilligen-Team für Humanität" nennt, etwas Licht hinter die Kulissen der Ereignisse in Jakarta Mitte Mai 98 zu bringen.

WELT IN UMWÄLZUNG Mannheim-Ludwigshafen, 22. Mai 1998


Dokumentation:

Bericht des Freiwilligen-Teams für Humanität

19.5.98

Hinter Riot und Massaker

I. Wut über den Tod der Studenten

Die Öffentlichkeit hat Schmerz und Wut über die schwieriger und unsicherer werdenden Bedingungen im Land lange unterdrückt. Aber der Zorn erreichte einen Wendepunkt, nachdem sechs Studenten der Trisakti Universität während einer friedlichen Demonstration auf dem Campus am 12. Mai erschossen worden waren. Bewohner aus der Umgebung verschiedener Universitäten wollten sich den Studenten bei den Trauerfeiern anschließen. Aus Gesprächen mit Zuschauern geht das klar hervor. Sie redeten über ihre Betroffenheit über den Tod der Studenten und brachten ihre Wut über die willkürliche Aktion der Sicherheitskräfte zum Ausdruck. "Sie [die Studenten] waren bereits auf Universitätsgelände. Warum hat das Militär weiter auf sie geschossen?" Diese Art Fragen werden von Leuten von außerhalb der Universität gestellt.

Diese Betroffenheit wandelte sich in Zorn, als Sicherheitsbeamte, die den Ort der Morde bewachten, die Trauerversammlung innerhalb der Trisakti Universität störten. Dies provozierte die Leute dazu, den Truppen Beleidigungen zuzurufen und sie mit Steinen zu bewerfen.Nachdem die Sicherheitsbeamten beschimpft worden waren, wurde die Regierung beleidigt. Die Menge blieb bis mindestens 18 Uhr (Mittwoch, 13.5.) in dieser Atmosphäre von Zorn und Trauer befangen. Es gab keinerlei Hinweis auf bevorstehende Randale.

II. Wut und Randale

Der massenhafte Zorn gegen die Sicherheitskräfte änderte im Laufe der Nacht seine Stoßrichtung; der anti-chinesische Aspekt tauchte auf. Die Wut explodierte am 14. Mai überall in Jakarta in verschiedenen Formen, die nicht einfach zu begreifen sind. Zerstörung, Plünderung, Brandschatzungen und Morde ereigneten sich in Geschäfts- und Einkaufszentren und breiteten sich in Wohngebieten aus. Der Mob plünderte nicht nur, sondern chinesischstämmige IndonesierInnen wurden ausgezogen, vergewaltigt, verbrannt. Es sieht so aus, als wären die chinesischstämmigen Indonesier wieder einmal zum Sündenbock für andere Probleme gemacht worden, allerdings auf eine brutalere, unzivilisiertere Weise und in größerem Maßstab. Verschiedene Viertel wurden per Telefon oder direkt mit Plünderung und Brandschatzung bedroht. Die folgende Zeugenaussage beschreibt die Brutalität des Riot:

"Ich wußte, daß mein Geschäft von der Menge angegriffen werden würde. Zu diesem Zeitpunkt war es eine schwierige Entscheidung, ob ich im Geschäft bleiben sollte. Draußen würde ich totgeschlagen, drinnen verbrannt werden. Ich entschied mich, drinnen zu bleiben und schloß die Tür ab. Ich begann, Hitze und Flammen zu spüren. Ich bekam Brandverletzungen und weis nicht, was weiter passiert ist. Es stellte sich heraus, daß jemand versucht hatte, mich zu retten und aus dem Laden geholt hat. Ich lebe noch, aber ich habe Verbrennungen am halben Körper. (Quelle: Ein Opfer der Brände in Jatinegara, Ost Jakarta)

"Ich sah, wie sich eine Menge auf das Haus einer chinesischen Familie zubewegte. Die Menge brach in das Haus ein und befahl dem Hausmädchen, zu verschwinden. 'Die Menge drang ein, nahm die Schlüssel und schloß das Haus ab. Dann legten sie Feuer. Ich hörte die Familie um Hilfe schreien. Ich wollte helfen. Aber meine Füße und mein Mund waren blockiert. Die Menge kümmerte sich einen Scheiß darum, was passierte. Ich war voller Wut, weil ich nichts tun konnte." (Quelle: ein Zeuge eines Brandes im Viertel Kampung Melayu)

"Ich sah, daß das Jatinegara Plaza ruhig war. Die Sicherheitskräfte patrouillierten in der Gegend, schienen es aber nicht besonders streng zu bewachen. Als ich sah, daß die Menge einfach in das Plaza hineinging, schloß ich mich an. Ich ging sofort in den dritten Stock, weil es unten nur Kleider gab. Der dritte Stock war sehr dunkel. Ich tastete im Dunkeln nach Sachen zum Mitnehmen. Nach einer Weile merkte ich, daß Tränengas von unten kam. Inmitten einer dicken Tränengaswolke sah ich, wie ein Mann eine Papierrolle anzündete. Nachdem er das Gebäude in Brand gesteckt hatte, rannte er weg. Ich ebenfalls. Das Plaza fing an zu brennen und ich gesellte mich zu denen, denen es ebenfalls gelungen war, sich zu retten. Wir wurden von Sicherheitskräften zusammengeschlagen." (Quelle: ein Plünderer und Zeuge des Brandes Jatinegara Plaza).

III. Das Muster der Merkwürdigkeiten

Im Verlauf der Riots gab es viele tragische und unzivilisierte Zwischenfälle. Unserer Zählung nach gab es mindestens 1188 Todesfälle in Jakarta und Tanggerang vom 12. bis 18. Mai. Ursachen: Erschießung, Mißhandlung, Brandstiftung. Zuerst hatten wir den Eindruck, daß die Riots von Menschen gemacht wurden, die ihr Elend nicht mehr ertragen und ihre Wut nicht länger unterdrücken konnten. Als wir jedoch die Chronologie der Ereignisse und die Vorgänge untersuchten, die an verschiedenen Orten die Riots auslösten, entdeckten wir ein durchgängiges Muster von Vorfällen, die wir als anomale Aktion bezeichnen. Zerstörung, Plünderung und Brandschatzung begannen in den verschiedenen Vierteln von Jakarta zur gleichen Zeit. Das weist offensichtlich darauf hin, daß es den Versuch einer bestimmten Gruppe gab, den Zorn der Massen zu benutzen, um Tumulte zu erzeugen, die besonderen Interessen dienen sollten. Die Tumulte wurden in einer organisierten, systematischen und professionellen Art dirigiert. Die Riots liefen auf folgende Weise ab:

1. Benutze folgende Methoden, um die Masse dazu zu bringen, sich an einer bestimmten Stelle zu versammeln:
a. verbreite das Gerücht, daß es Zerstörung, Plünderung und Brandstiftung an einem bestimmten Ort gäbe. Solche Gerüchte wurden via Telefon, Fahrer öffentlicher Verkehrsmittel und Einzelpersonen verbreitet. Wenn die Leute das Gerücht mitbekamen, begannen sie sich dort zu versammeln.
b. ziehe die Aufmerksamkeit der Leute durch das Verbrennen von Holz oder Autoreifen an und provoziere die Menge. Die Leute kommen dann zum Ort des Feuers und werden Zeuge dessen, was die Anstifter dann unternehmen.

2. Schicke eine Gruppe von Leuten (meist Teenager oder junge Erwachsene) um als agents provocateurs und Anführer zu agieren, um die Menge zum Zerstören und Brennen anzustiften. Diese Provokateure haben spezielle Merkmale. Es gab drei Gruppen, die als Provokateure und/oder Führer der Menge während der verschiedenen Riots agierten.
a. Eine Gruppe von Jugendlichen in studentischer Kleidung (wie Universitätsjacken [Anmerkung: jede Uni in Indonesien hat ihre spezielle Farbe und Embleme für die Jacke der Studenten]).
b. Eine Gruppe von Teenagern in der Uniform von Oberschülern.
c. Eine Gruppe von kräftigen Jugendlichen mit Bürstenhaarschnitt und Militärstiefeln.

In jedem Vorfall, über den wir einen Bericht haben, riefen und skandierten solche Gruppen Slogans, die ihnen offensichtlich eingetrichtert worden waren, so wie: "Nieder mit den Chinesen" oder "Studenten sind Feiglinge".

3. Im Riot würden die Provokateure ihre aufstachelnden Losungen ausgeben und die Zerstörung beginnen, so daß die Masse es ihnen nachmachen könnten. Die Menge würde das Plündern beginnen, während die Hetzer beiseite stehen würden oder hineingehen, aber nicht plündern würden.

4. Erzeuge durch Terror eine gespannte und angstvolle Situation. Das signalisiert, in welche Richtung der Riot gehen würde.

Im Folgenden Beispiele von Seltsamkeiten hinter den Riots.

Vorfall: Riot entlang der Jalan S. Parman und Citraland Mall
Ort: Grogol, West Jakarta
Bemerkungen: Die Menge bestand aus zwei Gruppen: eine Gruppe aus gewöhnlichen Leuten aus der Umgebung und einer Gruppe von Jugendlichen in Oberschüleruniformen (einige von ihnen sahen zu alt aus, um Oberschüler zu sein). Inmitten der Menge der gewöhnlichen Leuten gab es etliche junge Erwachsene mit Bürstenhaarschnitt, muskulösen Körpern und Stiefeln. Sie riefen die Parole "Nieder mit den Chinesen", während die Gruppe der Oberschüler die Menge bei der Zerstörung von Sachen anführte. Nachdem die Menge mit Zerstörungen angefangen hatte, setzten sich die Jugendlichen in Oberschüleruniformen und die mit den Stiefeln ab und verschwanden.

Vorfall: Der Brand des Jatinegara Plaza
Ort: Jatinegara, Ost Jakarta
Bemerkungen: Es waren viele Sicherheitsbeamte in diesem Bereich, dennoch konnte die Menge das Plaza ungehindert betreten. Auf dem Dach des Plazas waren einige Beamten, die auf zwei Menschen schossen, die versuchten, über eine Regenrinne vom obersten Stockwerk nach unten zu gelangen. Nach dem Brand kamen Beamte in schwarzen Uniformen mit schwarzen Plastiksäcken und säuberten das Brandgelände von Leichen.

Vorfall: Zerstörung von Läden um den Bahnhof Kampung Melayu
Ort: Kampung Melayu, Ost Jakarta
Bemerkungen: Die Menge versammelte sich, weil einige Premans ["Zivile", Rowdies, Mitglieder von Gangs] Reifen verbrannten. Die Zerstörungen begannen, als eine Gruppe Jugendlicher in Oberschüleruniformen auftauchte. Nachdem diese sich entfernt hatten, gingen die Zerstörungen weiter.

Vorfall: Brand des Meruya Einkaufszentrums
Ort: West Jakarta
Bemerkungen: Die Menge versammelte sich, weil sie gehört hatte, daß das Einkaufszentrum bald brennen würde. Der Brand begann, als eine Gruppe von Jugendlichen in Oberschüleruniformen mit zwei Stadtbussen angekommen war.

Vorfall: Brand des Lebensmittelmarktes Goro in Pasar Minggu (Wochenmarkt)
Ort: Süd Jakarta
Bemerkungen: Das Plündern und Brandschatzen begann, als Dutzende von Jugendlichen von zwei LKWs abgeladen worden waren.

Vorfall: Versuchter angriff auf die Universität der Nationalen Entwicklung
Ort: Pondok Labu, Süd Jakarta
Bemerkungen: Der Angriff begann, als Dutzende von Jugendlichen in Oberschüleruniformen von zwei LKWs und einem Minivan gebracht worden waren.

Vorfall: Plünderung und Brand des Yogya Plaza
Ort: Klender, Ost Jakarta
Bemerkungen: Das Plaza explodierte, nachdem vier Männer mit Bürstenhaarschnitt, muskulösen Körpern und schwarzen Jacken, die behaupteten, sie seien Studenten, einen nassen Lappen brachten und diesen ins Gebäude warfen. Einer von ihnen rief, die Leute sollten herauskommen, weil das Plaza brennen würde.

Vorfall: Zerstörung und Plünderung der Puri Indah Mall
Ort: Kebun Jeruk, West Jakarta
Bemerkungen: Die Zerstörung begann, als 10 Muskelmänner mit grimmigen Gesichtern und tätowierten Körpern ankamen und anti-chinesische Parolen riefen.

Vorfall: Versuchte Zerstörung und Brandschatzung von Läden entlang der Jalan Dewi Sartika
Ort: Cililitan, Ost Jakarta
Bemerkungen: Ein Mann, der den lilafarbenen Blazer eines Universitätsstudenten trug, rief: "Steckt die Läden an". Aber die Menge machte keine Anstalten. Der Mann wurde verhaftet und durchsucht. Ein Molotovcocktail wurde in seiner Jacke gefunden.

Unsere Informationsquellen sind Augenzeugen dieser Ereignisse. Das ist nur eine Auswahl von vielen seltsamen Aspekten dieser Riots.

Niemand kann annehmen, daß die Zerstörungen, Plünderungen und Brandschatzungen der Geschäftszentren und Einkaufsstraßen von gewöhnlichen Leuten spontan durchgeführt wurden. Deshalb liegt es in der Verantwortung von Regierung und Sicherheitskräften, eine gründliche Untersuchung bezüglich der Leute, die in die einzelnen Vorfälle verwickelt waren, anzustellen. Die Verhaftung von Plünderern vor Ort wird nicht ausreichen, die Fragen zu beantworten. Alles in allem sind die Plünderer Opfer von massiven Plünderungen innerhalb des gegenwärtigen politischen Systems mit seiner Korruption, seinem Schwindel und seiner Vetternwirtschaft. Massaker an gewöhnlichen Leuten werden weitergehen, wenn die Akteure dieser Riots und die Drahtzieher hinter den Kulissen nicht zur Verantwortung gezogen werden.

IV.. Unsere Gewissenspflicht

(...)

Jakarta, 18.5.98, Freiwilligen-Team für die Humanität, I. Sandyawan Sumardi, SJ, Sekretär


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Mai 1998